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german original:
„Deutsche" Völker heißen diejenigen germanischen Stämme, welche auf heimischem Boden ihre Sprache und Sitte sich bewahrten. Selbst aus dem lieblichen Italien verlangt der Deutsche nach seiner Heimat zurück. Er verläßt deshalb den römischen Kaiser und hängt desto inniger und treuer an seinem heimischen Fürsten. In rauhen Wäldern, im langen Winter, am wärmenden Herdfeuer seines hoch in die Lüfte ragenden Burggemaches pflegte er lange Zeit Urvätererinnerungen, bildet seine heimischen Göttermythen in unerschöpflich mannigfaltige Sagen um. Er wehrt dem zu ihm dringenden Einflusse des Auslandes nicht; er liebt zu wandern und zu schauen; voll der fremden Eindrücke drängt es ihn aber, diese wiederzugeben; er kehrt deshalb in die Heimat zurück, weil er weiß, daß er nur hier verstanden wird: hier am heimischen Herde erzählt er, was er draußen 'sah und erlebte. Romanische, wälische, französische Sagen und Bücher überseht er sich, und während Romanen, Wälsche und Franzosen nichts von ihm wissen, sucht er eifrig sich Kenntnis von ihnen zu verschaffen. Er will aber nicht nur das Fremde als solches, als rein Fremdes, anstarren, sondern er will es „deutsch" verstehen. Er dichtet das fremde Gedicht deutsch nach, um seines Inhaltes innig bewußt zu werden. Er opfert hierbei von dem Fremden das Zufällige, Äußerliche, ihm Unverständliche, und gleicht diesen Verlust dadurch aus, daß er von seinem eigenen zufälligen, äußerlichen Wesen so viel darein gibt, als nötig ist, den fremden Gegenstand klar und unentstellt zu sehen. Mit diesen natürlichen Bestrebungen nähert er sich in seiner Darstellung der fremdartigen Abenteuer der Anschauung der reinmenschlichen Motive derselben.
Richard Wagner, Was ist Deutsch? (1865/1878)
https://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/324_Wagner_Was%20ist%20deutsch_97.pdf